Die Wissenschaft befinde sich auf neuem Terrain. Dementsprechend müsse sie sich und die Forschung ständig hinterfragen, nachbessern und lerne schlicht dauernd dazu. Das meint nicht nur ein schlafloser Kommentator der Süddeutschen Zeitung, sondern die Mehrheit des bundesdeutschen Kommentariats. Das hört sich gut an und lernen ist schließlich menschlich. Diese Einführung ist also eine Selbstverständlichkeit für den durchschnittlich intelligenten Menschen, die auf das, was folgt, einstimmen soll:
Dann wird es nämlich „ekelig“ und auch das ist aktuell bei der Ansprache von Kritikern der aktuellen Corona-Regierungspolitik leider keine Ausnahme: „Es scheint im Moment Mode zu sein, wissenschaftliche Erkenntnisse mit Privatmeinungen zu torpedieren. Von Theater-Regisseuren bis zu schwäbischen Bürgermeistern, kaum ein Tag vergeht, an dem sich nicht jemand mit einem argumentativ, nun ja, interessanten Zwischenruf zu Wort meldet. Das ist natürlich erlaubt, es wäre nur schön, diejenigen hätten zuvor einen Moment lang nachgedacht.“
Kritiker der aktuellen Corona-Lockdown-Politik der Bundesregierung denken also per se nicht nach, bevor sie Ihre Gedanken oder andere Dummheiten kommunizieren? Eine solch pauschale Vorverurteilung ist in der journalistischen Grundform des Kommentars zwar durchaus erlaubt, aber sie sollte schon begründet werden. Hier aber mangelt es vielen Mitgliedern des Kommentariats (noch) und das ist kein sauberes Handwerk.
Anders als bei lokalen Themenstellungen oder begrenzten Konflikten ist die Corona-Pandemie mit ihren massiven wohl leider häufig langfristig irreversiblen Auswirkungen und Veränderungen auf viele Bereiche der Gesellschaft ein Kommentarthema, bei dem man auch erst nachdenken sollte, bevor man einen Hauruck-Kommentar aus dem Lameng schüttelt oder jemanden einen Gefallen tut.
Wo sind zum Beispiel interessante Gedanken und Einschätzungen von Leitmedien-Kommentatoren, warum sich die Politik plötzlich scheinbar hinter der Wissenschaft versteckt (CSU-Chef Söder am 30.4.2020: „Wir waren uns alle einzig, dass man Wissenschaftsannahmen akzeptieren muss“), gleichzeitig aber die Rolle des Entscheiders (der Politik) unterstreicht (Bundeskanzlerin Merkel am 30.4.2020: „Ich warne davor, den Überbringer der Botschaft verantwortlich zu machen. … Deshalb sind wir Politiker ja da“)?
Ist es logisch, nachvollziehbar und richtig, dass die aktuelle Corona-Politik sich auf wenige Virologen und eine wissenschaftliche Institutionen beruft? Warum werden keine neuen Gedanken, Ideen und Konzepte in Kommentaren in diesem Zusammenhang vorgestellt wie zum Beispiel ein Corona-Beirat „aus der Mitte der Gesellschaft“ oder zumindest die konsequente Einbeziehung von Wirtschaftswissenschaftlern, Soziologen und Statistikern.
So oder so, auch Kommentatoren und Kommentatorinnen unserer Leitmedien sollten bitte ihre nach wie vor sehr wichtige Rolle in dieser krassen Pandemie wahrnehmen, Fakten und Argumente gegenüberstellen und abwägen, sich nicht zu schnell auf die eine oder andere Seite ziehen lassen und dann ihre transparent nachvollziehbare eigene Meinung für den Rezipienten bzw. uns kundtun. Nur dann kann diese journalistische Form das sein, was sie aktuell leider nicht immer ist: ein sehr wichtiger Beitrag für die eigene Meinungsbildung und für die unabhängige, freie, gesellschaftspolitische Diskussion in der Demokratie.
Ach ja, um die Frage aus der Headline zu beantworten: Natürlich dürfen sich auch Kommentatoren irren. Aber nur, wenn sie diesen Irrtum kommentieren …
Schönen (1.) Mai 2020 und bleiben sie optimistisch!
(ohb)