Leopoldina-Stellungnahme – Auszüge und Original vom 13.4.2020

Auszüge:

Die bisher stark symptomgeleiteten Datenerhebungen führen zu einer verzerrten Wahrnehmung des Infektionsgeschehens. Es ist daher wichtig, die Erhebung des Infektions- und Immunitätsstatus der Bevölkerung substantiell zu verbessern …

Daten zu schweren Krankheitsverläufen und Todesfallzahlen müssen in Relation zu denen anderer Erkrankungen gesetzt und auf das zu erwartende Sterberisiko in einzelnen Altersgruppen bezogen werden.

Für die Akzeptanz und Umsetzung getroffener Maßnahmen ist eine auf Selbstschutz und Solidarität basierende intrinsische Motivation wichtiger als die Androhung von Sanktionen.

Wirtschaftliche Konjunkturprogramme sollten grundsätzlich mit den Zielen des europäischen „Green Deals“ vereinbar sein.

Der Schutz jedes einzelnen Menschen und die Ermöglichung eines menschenwürdigen Lebens stehen im Mittelpunkt allen staatlichen Handelns.

In den nächsten Wochen und Monaten sollte die Zahl der Neuinfektionen soweit wie möglich kontrolliert auf einem niedrigen Niveau gehalten werden. Dabei sind Kurzzeitprognose-Modelle immer mit aktualisierten, hochaufgelösten Daten anzupassen. Ziel ist es, die wahrscheinliche Entwicklung der Pandemie über 1 bis 2 Wochen (inkl. anzugebender Ungenauigkeitsintervalle) vorherzusagen und die erwartete Effektivität
von Maßnahmen vor deren Anwendung zu vergleichen. Auch der Effekt einer Lockerung von Maßnahmen kann in verschiedenen Szenarien untersucht werden.

 Große Bereiche der organisierten Zivilgesellschaft existieren aktuell lediglich in digital geknüpften Netzwerken in geschrumpfter Form. Auch im Hinblick auf die Zukunft der Zivilgesellschaft spricht daher alles für die schrittweise Lockerung der aktuellen Maßnahmen – sobald irgend möglich. 

Gut belegt ist die antidepressive und gesundheitsfördernde Wirkung von Sinngebung, helfendem Verhalten, sozialer Unterstützung, positiver psychischer Gesundheit, Selbstwirksamkeitsüberzeugung und Resilienz. Diese Faktoren können bereits kurzfristig durch geeignete psychologische Maßnahmen gesteigert werden. Menschen werden grundsätzlich stärker durch exemplarische als durch statistische Evidenz beeinflusst. Daher ist es wichtig, konkrete Beispiele anzuführen, die bisherige hoch engagierte Mitwirkung der Bürgerinnen und Bürger explizit wertzuschätzen und aufzuzeigen, was weiter notwendig sein wird.

Bei den psychischen Folgen und gravierenden Überlastungen müssen sozioökonomische Aspekte und der Mangel an sozialer Einbettung dringend berücksichtigt werden. Zu den besonderen Risikogruppen gehören Alleinerziehende, Migrantinnen und Migranten ohne Sprachkenntnisse, alleinlebende Ältere, psychisch Erkrankte, Pflegefälle und Arbeitslose. In ärmeren und eher bildungsfernen Schichten fehlen tendenziell materielle, psychische und soziale Ressourcen.

Die bislang angeordneten staatlichen Maßnahmen greifen in eine Reihe von Grundrechten ein. Betroffen sind nicht nur allgemeine Bewegungsfreiheit und Freizügigkeit, sondern auch die Versammlungs- und Religionsfreiheit sowie die zentralen wirtschaftlichen Grundrechte der Berufs- und Eigentumsfreiheit. Denn hier lautet die Frage, ob es nicht mildere Maßnahmen gleicher Effektivität gibt. Die aktuellen politischen Maßnahmen erfolgten aus nachvollziehbaren Gründen angesichts des großen Zeitdrucks recht pauschal. Wegen der Schwere und Dauer der Grundrechtsbeschränkungen ist es nun geboten, über Alternativen und mögliche Lockerungen nachzudenken, ohne das Schutzziel aus den Augen zu verlieren. Eine beständige Beobachtungs- und Prüfungspflicht hinsichtlich einer
möglichen Lockerung der Verbote ist verfassungsrechtlich geboten.
So wäre etwa eine vorbeugende Segregation einzelner Bevölkerungsgruppen, beispielsweise älterer Menschen, allein zu deren eigenem Schutz als paternalistische Bevormundung abzulehnen.

Gerechtigkeit bedeutet, dass die sozialen und ökonomischen Kosten der Pandemie einschließlich der Maßnahmen zu ihrer Bewältigung nicht einseitig zu Lasten einzelner Personen oder Personengruppen gehen dürfen, sondern mit möglichst gleichen Belastungsfolgen verteilt werden müssen.

Die Wiedereröffnung der Bildungseinrichtungen sollte sobald wie irgend möglich erfolgen, und zwar schrittweise und nach Jahrgangsstufen differenziert.

Diese Krise ist zugleich die Stunde der Nationalstaaten. Deren Wirkungskraft ist, wie sich zeigt, ungebrochen. Nur die Nationalstaaten scheinen bislang über die Legitimationsgrundlagen, Ressourcen und Handlungsfähigkeiten zu verfügen, um solch weitreichende Interventionen durchzuführen.

Die aktuelle Krise verstärkt zudem eine oft generelle Globalisierungskritik. Zweifellos erhöht die starke Abhängigkeit von Weltmärkten und die Transnationalisierung von Lieferketten die Anfälligkeit für globale Krisen. Die vielfältige, nicht nur wirtschaftliche globale Vernetzung sollte vor allem in der Wirtschaft selbst Anlass sein, über kontrollierbarere Außenbeziehungen nachzudenken.

Das Original (Quelle: https://www.leopoldina.org/publikationen/detailansicht/publication/coronavirus-pandemie-die-krise-nachhaltig-ueberwinden-13-april-2020/):

2020_04_13_Coronavirus-Pandemie-Die_Krise_nachhaltig_überwinden_final

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